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"DIE BESCHEIDENEN FREUDEN DER ALTVORDEREN"
 

Furchtbar-fruchtbar: Bücher des Kirchspiels künden von Krudelität und kollektivem Koitus
Heimatkundlicher Vortrag

Quelle: Text aus der Gießener Allgemeinen Zeitung vom 3. 5. 1994




 

Es ist verständlich: In Ermangelung massenmedialer Zerstreuung und wegen der wahrlich raren Freizeitangebote, die sich zumeist auf ausschweifende Besäufnisse beschränkten, besann sich die Landbevölkerung des 17. bis 19. Jahrhunderts auf naturgegebene Möglichkeiten des Zeitvertreibs: Sie frönte der "fleischlichen Vermischung", bis sich dem Dorfgeistlichen vor Entsetzen über das Ausmaß der Unzucht die Nackenhaare kräuselten. Denn wie der Staufenberger Heimatforscher Werner Heibertshausen am Freitag beim Kaminabend der örtlichen Heimatvereinigung im Burghaus berichtete, oblag seinerzeit dem Pfarrer die peinlich genaue Buchführung über die fortpflanzungstechnischen Fehltritte seiner Schäflein. Im Kirchenbuch festgehalten wurden daneben natürlich auch die löblichen Niederkünfte als Folgen ehelicher Pflichterfüllung sowie sämtlicher Sterbefälle - eben alles, was heute von den Bediensteten eines Standesamtes erfasst wird. Diese Einrichtungen gab es, wie Heibershausen sagte, bis 1875 jedoch noch nicht.

Heimatforscher Heibertshausen zitierte in seinem Vortrag, der den Titel "Geschichtliche Begebenheiten aus dem Kirchspiel Kirchberg" trug, einige Paradebeispiele für die präzisen Notierungen beflissener Lokaltheologen. Diktion und Inhalt der Aufzeichnungen sorgten bei den rund 80 interessiert lauschenden Gästen für herzhaftes Gelächter. "Sorgen und Nöte unserer Altvorderen, aber auch deren bescheidenen Freuden", nämlich "Sex und Alkohol", bereits 1628 stark verbreitet waren. In diesem Jahr war im Einzugsgebiet des Kirchberger Gotteshauses mit der handschriftlichen "Speicherung" personenbezogener Daten begonnen worden.




 

Notizen über Ehebruch und Trunkenheit

Aktennotitzen wurden seither nicht nur über Bewohner angefertigt, die " unter der Predigt die Gasse kehrten" oder "trunken zur Pfarrkirche kamen", sondern insbesondere über Ehebrecher und unverheiratete Liebespärchen. Da Möglichkeiten der Empfängnisverhütung nicht bekannt waren, mündete fast jeder Akt in die Schwangerschaft, und Seitensprünge wurden auf diese Weise deutlich sichtbar. Die gesellschaftliche Ächtung traf vor allem die weibliche Gemeindemitglieder mit Härte: Als "dreimalige Hur" ging eine Frau ins Sittenregister ein, die drei uneheliche Kinder zur Welt gebracht hatte. Den Erzeugern ging´s derweil damals schon an den Geldbeutel. Alimente waren aber nur bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes fällig und betrugen etwas über fünf Gulden. Den gleichen Betrag konnte einmal auch entrichten, wer der Schmach entgehen wollte, nach begangener Sünde mit einer brennenden Kerze in der Hand und dem Gesicht zur Gemeinde für die Dauer des Gottesdienstes vor den Altar gestellt zu werden. "Mit Geld ließ sich also schon immer einiges machen", merkte Heibertshausen kritisch an. Diese Methode der Bloßstellung sei 1750 offiziell abgeschafft, jedoch erwiesenermaßen darüber hinaus noch jahrelang praktiziert worden.

Erstaunt hatte den Heimatforscher, dass die Pfarrer stets detailgenau festhielten, an welchen Plätzen bevorzugt "dominiert" und "imprägniert" wurde. So pflegte man sich, noch in Unkenntnis des englisch-lateinischen Begriffs "Sex", auszudrücken. Den Kirchenbüchern zufolge geschah es häufig im Wirtshaus, "bei der Ziegelhütte" und " in der Kornkammer". Auch mit argen "Generationskonflikten", die für Kinder und Elternteile durchaus tödlich enden konnten, hatte man im Berichtszeitraum schon zu kämpfen. Da beförderte zum Beispiel 1642 ein 15jähriger Knabe seine Mutter vom Leben zum Tod, indem er ihr "16 blutige Wunden" beibrachte. Die Strafe war nicht minder martialisch: Der Muttermörder wurde zunächst "zweimal mit glühenden Zangen gepetzet", dann schlug man ihm den Kopf ab, vierteilte ihn und warf seine Überreste auf die Straße.

Das Amtsgericht Gießen mußte sich 1809 mit dem Fall eines Vaters beschäftigen, der seinen Sohn - noch ein Kleinkind - totgeprügelt hatte. Die Ehe der Eltern wurde zwar im Anschluss daran geschieden, jedoch hatten sie danach noch vier (!) gemeinsame Kinder.




 

Kind auf der Linkswiese ausgesetzt

Gar nicht erst die Chance, ihr Eltern kennenzulernen, hatte die - später so getaufte - Anna-Traude. Sie fand man nämlich 1848 im zarten Alter von acht bis neunWochen ausgesetzt "auf der Linkswiese bei der Linksbrücke". Die "ledigen Burschen und Mädchen" Staufenbergs, bei denen sie in Pflege gegeben wurde, übernahmen gemeinsam die Patenschaft.

Genau festgehalten wurden auch jeweils die Todesursachen. Bemerkenswert ist, dass sich darunter in Mainzlar bereits 1809 schon Krebs (!) befand. Weniger neuzeitlich mutet die pfarrerliche Eintragung an, ein Wahrsager sei eben da "vom Teufel erwürgt" worden. Sehr weltlich unterdessen: 1744 erlag ein Gastwirt im Alter von 52 Jahren einer "hitzigen Krankheit", nachdem er Zeit seines Lebens "dem Trunk beständig nachgegangen" hatte.
Einem Schneider hatte es "das Hirn weggerissen", als ihn, am Fenster sitzend, eine Schrotladung ereilte. Der Schütze hatte, wie sich herausstellte, vorher "für drei Kreuzer Branntwein gesoffen". Auf grauenvolle Art zu Tode kam auch ein Müller, der "vom Mühlrad am Kittel erfasst", herumgeschleudert und unterm Rad "ganz breit gedrücket" wurde. Vom Stand der medizinischen Kenntnis zeugt, dass man einen Zeitgenossen der "vom Baum auf den Hals gefallen" war, zur Ader ließ, weil ihm Blut aus der Nase lief. Er segnete bald das Zeitliche.




 

Rund um die Kirche wurde es "eng"

Insgesamt 91 Opfer forderte im Kirchspiel bis 1646 der Hessenkrieg. Alle Toten wurden in Kirchberg rund um die Kirche begraben, so dass es langsam etwas eng wurde. "Da musste man halt ein bißchen zusammenrücken", meinte Heibertshausen. Erst 1814 wurde in Mainzlar der neue (und heute alte) Friedhof eingeweiht. Als erste fand dort ihre letzte Ruhe eine Frau, die am "Nervenfieber" gestorben war.

Stets interessant zu lesen, schloss der Heimatkundige, seien auch die Protokolle der Konventsitzungen: Als annno 1744 die Ratsherren zu Staufenberg einen neuen Kirchenstuhl gebaut hatten, rückten die Bürgermeister der umliegenden vier Dorfschaften an und rissen ihn wieder ein. Die Kommunalpolitiker wurden zu je 250 Gulden Strafe verdonnert und mussten so lange im "Stockhaus" sitzen, bis sie sich dazu durchgerungen hatten, den Stuhl wieder zu errichten. Der Denkprozeß währte 8 (die letzten Worte nicht mehr lesbar).