Sie sind hier: Kirche Kirchberg Texte Notabilien  
 TEXTE
Geschichte
Spätgotik
Geschichten
Pfarrerverzeichnis
Verhältnisse
Notabilien
Altvorderen
Baurat Walbe
Jahreslauf
 KIRCHE KIRCHBERG
Gemälde
Grafiken
Texte
Broschüre
Renovierung
Fotos
Postkarte
Kalender
Video und Glocken Kirchberg

DIE KIRCHBERGER "NOTABILIEN"
 

Großes Sittengemälde aus drei Jahrhunderten

Heimatforscher Werner Heibertshausen studierte die Kirchberger "Notabilien" .
Kirchenvorstände waren die Hüter der Moral

Quelle: Text aus der Gießener Allgemeinen Zeitung, vom 27. 2. 1992




 

Wenn heutzutage ein Hausbesitzer das seinem Haus vorgelagerte Stück Bürgersteig nicht sauber hält, kann es ihm passieren, daß aufmerksame Nachbarn das "Fehlverhalten" den Behörden melden. In früheren Zeiten ereilte die Strafe auch jene, die sich allzu intensiv mit dem Pflaster vor ihrer Haustür beschäftigten. So geschah es 1659 der Agnes Heibertshausen aus Staufenberg, die, so verzeichnen es die Kirchenbücher der Pfarrei Kirchberg, "unter der Predigt die Gasse gekehrt hat". Die Folge: "sechs Albus und sechs Kreuzer" waren in den "Kirchenkasten" zu löhnen. Gesehen und angeschwärzt worden war die arme Sünderin von Hans und Christian, zwei Mitglieder des Kirchenvorstandes. Diese und viele andere Geschichten entdeckte ein Namensvetter der abgestraften Agnes: Heimatforscher Werner Heibertshausen hat in den vergangenen zehn Monaten intensiv die Kirchenbücher der Pfarrei Kirchberg studiert, zu der die Ortschaften Staufenberg, Lollar, Ruttershausen, Daubringen und Mainzlar gehörten. Im vergangenen Jahr hatte der Namensforscher herausgefunden, dass die Vorfahren Königin Sylvias von Schweden (Die AZ berichtete) in direkter, väterlicher Linie aus Staufenberg kamen. Nunmehr breitete sich vor den Augen des 67jährigen Staufenbergers fast schon ein großes Sittengemälde aus drei Jahrhunderten aus.

Den Stoff hierfür liefern die Protokolle der Sitzungen der Kirchenvorstände, die sogenannten "Notabilien". Im Jahre 1628 beginnen die Aufzeichnungen, die vom jeweiligen Pfarrer niedergeschrieben wurden. Entsprechend sind Qualität und Umfang - abhängig von Bildungsgrad und Fleiß des Pfarrers - der auf vergilbten Papier entstandenen Geschichten, die allzu leicht dazu verleiten, den Alltag unserer Vorfahren unter dem Motto "Toll trieben es die alten Kirchberger" einzuordnen. Pest und Krieg waren ebenso Wegbegleiter wie die aufmerksamen und eifernden Mitglieder der Kirchenvorstände, die "Unzucht, Sauflust und Flucherei" beim Kirchspiel zur Anzeige brachten.

Das nonkonforme Verhalten, so lustig es sich heutzutage auch lesen mag, hatte für die Ertappten meistens böse Folgen. Materielle Strafen zum Wohle der Kirchenkasse mögen noch das kleinere Übel gewesen sein. Stand der "Sünder" während des Gottesdienstes erst unter der Kanzel, die Kerze in der Hand, mit dem Gesicht zur Gemeinde gewandt, war die soziale Ächtung perfekt. Die Praxis wurde erst 1750 offiziell verboten, nördlich von Gießen trotzdem noch länger betrieben. So mag es denn auch der Anna Katharina von Salzböden ergangen sein, die sich 1754 "von einem Knecht hat schwängern lassen". Oder einem Schmied von Mainzlar, der sich "unter der Predigt voll an Brandewein soff" und, so der Denunziant, "danach sein Saufen auch noch fortsetzte".




 

Klage über das Verhalten der Jugend

Klage geführt wurde auch über das Verhalten der Jugend: So seien die Staufenberger Burschen einst besoffen auf einem Esel durchs Dorf geritten. 1744, so die Chronik, seien "Wissicher" und Treiser nach dem "heidnischen Tanz am Hangelstein" (Gemeint war das Waldfest) aneinandergeraten und hätten sich bis zum Heibertshäuser Hof oberhalb Daubringens verfolgt und geschlagen. "Namhaft sollten sie gestraft werden", schlug die "Inquisition" vor. Am meisten lag den Aufpassern jedoch die sittliche "Zucht" am Herzen. Da wurden Bürger "des frühzeitigen Beischlafs überführt", beklagt wurde der Umstand, dass in Staufenberg "viele Kinder zu früh zur Welt kamen", sprich, kurz nach der Hochzeit. Den Typ "Haustyrann" gab es selbstverständlich auch. So ein Bäcker aus Lollar, der betrunken aus Richtung Badenburg kam, "gegen das Schulhaus schoss und hernach seine Frau schrecklich geschlagen." Es reichte auch schon, an Himmelfahrt die Geige gespielt zu haben, um dem kirchlichen Kadi vorgeführt zu werden.

Ein besonderes eifriger Geschichtenschreiber war der Pfarrer Johann Friedrich Römheld, der zwischen 1749 und 1761 auf dem Kirchberg "thronte". Ihm verdankt die Nachwelt auch eine umfangreiche Chronik aus dem Siebenjährigen Krieg. Der Kirchenmann hatte keine Angst vor großen Tieren. Dem Mainzlarer Schultheiß verweigerte er die Grabpredigt, da er, so Römheld, "unbilligen Haß gegen den Pastor" geübt hätte. So musste schließlich der Pfarrer Krupf aus Beuern herüberkommen, um den Segen für den in Ungnade gefallenen Schultheißen zu sprechen. Auch mit seiner Frau gab es Probleme: "Sie war mir von Anfang an zuwider", bekannte der Pfarrer freimütig. Heibertshausen bedauert es, dass mit Römheld einer der eifrigsten Chronisten zu früh starb. In der Nachfolge flossen Informationen spärlicher.

Nicht immer war die Bequemlichkeit der Pfarrer hierfür verantwortlich: Manchmal verschlugen wohl die Schrecknisse der Zeit den Schreibern die Sprache. Als Pest und Krieg um 1635 so viele Menschen dahinrafften, dass im Sterberegister keine Eintragungen mehr folgten, verliert sich auch die Spur der Familie Heibertshausen, der der Namensforscher bis dorhin gefolgt war.




 

Kirchensenior ein schlechter Spitzel

Schlecht erging es der Bevölkerung auch 1759, als laut Kirchenbuch 80 000 Franzosen durchs Lahntal zogen und zwischen Gießen, Wieseck und Daubringen das Korn abschnitten. Einer der seltenen Fälle, in denen sich große Politik und Alltagselend der Bevölkerung in der Chronik vermischten. Ansonsten liegt Heibertshausen vor allem an den individuellen Schicksalen. "Wie die Leute früher gelebt hatten, interessierte mich am meisten", nennt er ein Motiv seiner Forschungen. Dass einer seiner Vorfahren auch zu den gefürchteten Aufpassern gehörte, erschreckte ihn in Maßen. Als Spitzel eignete sich der "Kirchensenior" Heibertshausen nicht. Als er 1749 einige Burschen nicht anzeigte, die "schändliche Lieder sangen", sollte er selbst 20 Gulden (ab hier konnte ich die letzte Zeile nicht mehr lesen)

Quelle: Text aus der Gießener Allgemeinen Zeitung, vom 27. 2. 1992